Spielbericht: Das Wunder von Rostock

Rostock Piranhas vs. Herford Ice Dragons: 7:4 (0:3, 1:1, 6:0)

Torschützen: Öhrvall (4x), Steinmann, Schaludek, Fleischmann

Zuschauer: 995

Highlights: https://www.thefan.fm/details/12952/

Das Spiel:

Etwa fünf Minuten vor dem Beginn des letzten Drittels gab es eine interessante Diskussion aufzuschnappen. Zwei junge Dachse, Anfang 20, standen an der Bierschlange vor dem Block B und unterhielten sich.

»Wollen wir uns das wirklich noch 20 Minuten angucken«, sagte der eine zum anderen.

Der andere, wohl etwas in unserem Sport erfahrene, entgegnete verdutzt: »Das ist immer noch Eishockey. Da kann alles passieren.«

Wirklichen Zuspruch fand er in der Mimik seines Gegenübers nicht.

Man muss es dem Pessimisten etwas nachsehen. Ziemlich genau 36 Minuten war das, was sich in der Schillingallee abspielte, ganz schön zähe Kost.

Die ersten 36 Minuten: Tod

Es war ein Spiel, das sein Wesen früh preisgab: Es gab unfassbar viele gute Torchancen auf beiden Seiten. Es gab fast noch mehr Unterbrechungen. Und es war das Spiel zweier unfassbarer Läufe.

Die Rostocker Jungs hatten früh eine herausragende Offensiv-Stafette, doch dem einschussbereiten Stürmer hoppelte der Puck über den Schläger. Während die Piranhas zwei, drei heiße Aktionen hatten, war das Spiel der Gäste dennoch beständiger.

Imposant: Wie ausgeklügelt und clever sie Druck machten. Die Defence-Zone-Breakouts waren für die Piranhas-Verteidiger anstrengender als der Donnerstagmorgen für Bauleiter nach der Stammtischparade am Krug der guten Hoffnungen.

Kein Wunder, dass sich die Herforder das 0:1 quasi erdrückten. Brandon Schultz schoss das Tor fast selbst nach 15. Minuten aus der Verankerung.

Für die Piranhas wurde es nun richtig ungemütlich, denn der Herforder Drache hatte am Feuerspeien seinen Gefallen gefunden. Keine drei Minuten später stand es 3:0 für die Gäste. Die Halle war mucksmäuschenstill.

Das Schöne an den Rostocker Eishockey-Fans? Du kannst 0:3 zurückliegen, irgendwie halb gar auf dem Eis rumschlawinern, und trotzdem wirst du bei der Rückkehr auf das Eis mit Liebe empfangen.

Das zweite Drittel veränderte nach wenigen Minuten sein Gesicht. Die Piranhas übernahmen nun die Kontrolle, drückten. Schuss um Schuss prasselte auf Jakub Urbisch, dem Ex-Rostocker ein, aber Urbisch hielt. Oder der geballte Druck verschob das gegnerische Tor. Zur Verteidigung des kritisierten Torwarts: Wie ein Vereinsvertreter der Piranhas nach zwei Dritteln sagte, lag das häufige Torverschieben tatsächlich weniger an Urbisch als an dem nicht ganz verlässlich konfigurierten Tor.

Apropos Torverschieben.

Connor Hannon hatte zwar die Backen dick und wollte das Anschlüsslichen erzwingen, doch egal war er und seine Boys probierten: Die Scheibe wollte nicht über die Linie springen.

Anders auf der anderen Seite. Brett Humberstone traf (nach Videobeweis) bei einem Verlegenheitsangriff aus unfassbarem Winkel. Mike Mieszkowski, der wie immer seine Teamkollegen anfeuerte, gestand: »Das hat der Herforder schon ziemlich geil geschossen. Unfassbar schwierig für Borschtel.«

0:4 nach 34 Minuten. Schmeckte ungefähr so gut wie eine Flasche Fernet Branca, die den halben Hochsommer im Kofferraum verbracht hat.

Und dann war da noch dieser Urbisch. Würde dieser Schweinepriester im Herford-Tor (in diesem Fall ausdrücklich als Kompliment gemeint, weil er so viele Chancen vereitelte) überhaupt einen reinlassen?

Die letzten 24 Minuten: Auferstehung

Sein Name ist Öhrvall. Jesper Hans Öhrvall.

Das zweite Drittel war schon fast wieder vorbei, erneut waren Chancen vergeben, als Hans Öhrvall die Scheibe bekam. Rostock war in Überzahl. Öhrvall überlegte: passen oder schießen? Er nahm sich Zeit, schaute, schoss.

Der unglaubliche Urbisch war geschlagen. Der so sehnlich herbeigesehnte Doppelschlag gelang jedoch nicht – weil Herford weiter wie ein Tabellenvierter verteidigte.

Auch das Schlussdrittel begann zäh. Nicht, weil die Rostocker Jungs nicht kämpften, nicht wollten. Es war genug Kampf und Wille für jeden einzelnen Fan da. Aber Urbisch hielt, und auch Herford scheiterte nur knapp an der endgültigen Entscheidung, weil Albrecht eine Parade rausholte.

Dann begann der Gegner eine Dummheit.

Man muss ja ohnehin sagen: der Mensch tendiert ein bisschen sehr oft zur Verblödung. Erst neulich sah der Autor dieser Zeilen, wie ein populärer Gerichtsmediziner über seinen kuriosesten Fall sprach. Im Fokus: Zwei Jungs, die dachten, es wäre eine gute Idee, eine gefundene Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg in die Feuertonne zu werfen.

Genau das tat – im übertragenen Sinn – Brandon Schultz für die Herforder. Er warf seinem Team tatsächlich so etwas wie eine Handgranate in die Feuerschale. Eh schon in Unterzahl, ließ sich der Sportsmann zu einem miesen Foul hinreißen. 2+2-Strafe.

Und das gegen das derzeit heißeste Powerplay der Liga. Und nun, liebe Rostockerinnen und Rostocker: Anschnallen. Genießen. Miterleben. Mitfühlen.

48:19: Kamehameha-Öhrvall schießt perfekt in den Winkel.

49:09: Patrick Pohl auf Kevin Kunz, und er hat eine unfassbare Geduld. Wartet gefühlte halbe Ewigkeiten, ehe er den Puck auf Kilian Steinmanns Schläger schaufelt.

49:49: Der unglaublich unglaubliche Öhrvall aus der Halbdistanz.

Die Schillingallee kocht und vibriert. Eine kollektive Menschenwultst schüttelt und reckt sich.

Ausgleich!

Der Überzahlspiel ist vorbei – der Rostocker Flow nicht.

51:41: Öhrvall auf Bejmo, der abgebrüht, abgezockt auf Maximilian Johan »Schaludekson« abgibt. Das 5:4. Spätestens jetzt droht kollektive Ohnmacht. Bei allen – außer der Mannschaft.

Und es ist es immer noch nicht gewesen. Herford kommt nur zu einer Riesenchance, danach kurbelt Ilja Fleischmann den Puck per Rückhand ins Dreiangel. Drei Minuten sind da noch zu spielen. Und nur 27 Sekunden später ist es der unglaublich unglaublich unglaubliche Öhrvall, der aus dem eigenen Drittel ins leere Tor schießt.

7:4 nach 0:4 Rückstand. So was hat die Sportstadt Rostock lange nicht gesehen!

Der Respekt vor dem Gegner:

Herford. Erst vor wenigen Wochen haben die Piranhas selbst erlebt, wie in Sekunden eine 3:0-Führung kurz vor dem Ende zur Neige ging. Das tut weh. Aber: Eure Jungs sind weiterhin die Überraschung der Liga. Eine unfassbar unbequeme Mannschaft, die gestern 30 Minuten das bessere Team war. Es ist Eishockey. Und das ist wie die Liebe: Es brennt und es schmerzt. Wacker bleiben! Mit euren Coach werdet ihr noch so manches Fest feiern.

Die Spieler des Abends:

Die schwedische Reihe aus Öhrvall, Bejmo und »Schaludekson«. Jesper schoss vier Tore, Emil bereitete bei seinem Comeback drei vor, Schaludek schoss den Gamewinner. Auch sonst schüttelte jeder Rostocker Spieler die Schwere nach 36 Minuten ab. Das war eine kollektive Willensleistung. Hervorzuheben: Sebastian Albrecht, der nach einem schwierigen ersten Drittel mit drei frühen Gegentreffern dem Team danach weiterhin eine Siegchance gab.

Die Szene des Spiels:

Der Ruck, der mit König Leons (Häring) Rauferei durch die Halle ging. Erst setze sich Häring im Ringkampf durch, dann schmiss er den Helm weg und fuhr vom Testosteron aufgeblasen zur Strafbank. Die Halle explodierte – und die Piranhas überlebten zum Glück die vermeidbare Strafzeit.

Was Coach Lenny Soccio sagt: »Ich habe so ein letztes Drittel noch nicht erlebt. Ich bin stolz auf die Mannschaft. Sie hat sich nie aufgegeben, sie will immer gewinnen. Sie hat alles gezeigt und investiert.«

Der Appell:

3:2. 3:1. 7:3. 8:5. 7:4.

Das sind die vergangenen fünf Heimspiele der Rostocker Jungs. Was gestern Abend in der Schillingallee passierte, sucht seinesgleichen. Es war ein Wunder. Vor allem: Ein Erlebnis für kleine und große Fans. Für junge und alte. Für schüchterne und verwegene Zeitgenossen.

Kommt am nächsten vorbei. Belohnt die Rostocker mit einer Kulisse, die dieses Team verdient hat.

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Gemeinsam #bissigfürrostock

 

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